Im internationalen Vergleich sind Schweizer:innen politisch sehr aktiv. Hier spielen die direktdemokratischen Instrumente eine wichtige Rolle: Über 70% der Personen mit Schweizer Nationalität ab 18 Jahren nehmen nach eigenen Angaben an mindestens acht von zehn eidgenössischen Abstimmungen teil (BfS 2022).
Das politische Handeln besteht für viele Stimmbürger:innen in einer periodischen Abgabe von individuellen Meinungen und Interessen. Diese werden bei Abstimmungen und Wahlen gesamtgesellschaftlich zusammengezählt und bilden die kollektiven politischen Entscheide in der Schweiz.
Diesem weit verbreiteten Verständnis einer (halb-)direkten Demokratie steht das deliberative Demokratiemodell entgegen (Steiner 2019). Dabei wird Demokratie nicht als Summe von einzelnen politischen Präferenzen verstanden, sondern als Prozess von gemeinsamen Beratungen (lat. deliberatio = Beratschlagung), wie politische Probleme zu lösen sind. Die OECD beschreibt die öffentliche, repräsentative Deliberation als Ansatz, um “kollektive öffentliche Entscheidungen zu erhalten, anstatt die Meinungen einzelner Personen zu aggregieren”. (to gather collective public judgements, rather than to aggregate individual people’s top-of-mind opinions on complex issues) (OECD 2021).
Dieser Beitrag soll eine Übersicht zur Deliberation in der Schweiz geben: Was sind Merkmale und Beispiele von Deliberation und deliberativen Prozessen? Wie kann Deliberation gemessen werden? Und: Wo steht die Schweiz mit Blick auf die Deliberation?
Deliberation unterscheidet sich auf der einen Seite von Debatten, in denen kompetitiv die Gegenseite überzeugt werden soll. Deliberation ist andererseits auch vom Dialog zu unterscheiden, welcher ergebnisoffen ist. Debatten und Dialoge sind gleichzeitig Teil von deliberativen Prozessen (OECD 2020).
In einem deliberativen demokratischen Prozess durchläuft eine zufällig ausgeloste Gruppe Menschen gemeinsam einen moderierten Prozess des Lernens, Diskutierens und Zusammenarbeitens. Diese Gruppe ist dabei annähernd repräsentativ zusammengesetzt und bildet ein Abbild einer Gemeinschaft (OECD 2020 in Wäspi et al. 2023).
Die grundlegende Überlegung von Deliberation ist, dass demokratische Räume geschaffen werden, in denen repräsentative Gruppen von Menschen gemeinsam lernen, einander zuhören und zusammen Lösungen finden. Es entsteht kollektive Intelligenz: viele unterschiedliche Menschen können bessere Entscheidungen treffen als Einzelne oder homogene Gruppen (OECD 2021). Deliberative Prozesse können verschiedene Formen und Formate annehmen. Die OECD unterscheidet vier Typen von deliberativen Prozessen, die wiederum in 12 detaillierte Modelle unterteilt werden können (OECD 2020).
Ein jüngeres Beispiel für einen deliberativen Prozess in der Schweiz war der hauseigene Zukunftsrat U24. Dabei haben 80 ausgeloste und in der Schweiz wohnhafte junge Menschen im Alter von 16 bis 24 Jahren im Herbst 2023 zum Thema psychische Gesundheit Handlungsempfehlungen an die Adresse von Politik, Verwaltung und Gesellschaft erarbeitet.
Die deliberativen Elemente des Zukunftsrats U24 wurden vor Prozessstart in einem Regelbuch festgelegt, welches sich an den Leitlinien für Bürger:innenräte der OECD orientiert.
Zentraler Bestandteil war eine professionelle, unabhängige und neutrale Gestaltung sowie Moderation des Prozesses. Diese soll ein Umfeld schaffen, das die kollektive Intelligenz des Rates sowie einen respektvollen Umgang zwischen den Teilnehmenden fördert (Regelbuch 2023). Der Prozess sollte dabei im Kern folgende Elemente beinhalten:
Die wissenschaftliche Evaluation des Zukunftsrats U24 durch das Zentrum für Demokratie Aarau kommt zum Schluss, dass “sich der Zukunftsrat U24 hinsichtlich des deliberativen Prozesses selbst insgesamt als Erfolg erwiesen” hat (Zentrum für Demokratie Aarau 2024). Durch Befragungen der Teilnehmenden kann die Deliberation mit einer Analyse des Deliberative Reason Index (DRI) wissenschaftlich untersucht werden.
Die DRI-Analyse des Zukunftsrats zeigt, dass es den Teilnehmenden gelungen ist, gemeinsame Diskursrahmen zu identifizieren und ihre individuellen Präferenzen damit abzugleichen. Der deliberative Prozess beeinflusst also nicht nur individuelle Meinungen und Präferenzen, sondern trägt auch zur Schaffung eines gemeinsamen Verständnisses bei (Zentrum für Demokratie Aarau 2024).
Dieses Beispiel zeigt, dass Deliberation nicht nur in der Theorie als politische Idealvorstellung existiert. Die Wirkung von deliberativen Prozessen auf Teilnehmende ist auch über das Projekt Zukunftsrat U24 hinaus weltweit wissenschaftlich dokumentiert.
Der Zukunftsrat U24 ist eines von wenigen Beispielen für deliberative Prozesse in der Schweiz. Die OECD Deliberative Democracy Database listet im Zeitraum von 1979 bis 2023 insgesamt 733 deliberative Prozesse auf. In der Schweiz haben gemäss dieser Datenbank 9 solcher Prozesse stattgefunden, der erste davon 2019.
Verglichen mit dem internationalen Umfeld gibt es in der selbsternannten «besten Demokratie der Welt» also noch relativ geringe Erfahrungswerte mit deliberativen Prozessen. Warum ist das so? Wo steht der mediale, politische und wissenschaftliche Diskurs hierzulande?
In unserem Schweizer System kann das Vernehmlassungsverfahren als eine Art Deliberation verstanden werden. So liegt dem Prinzip des Vernehmlassungsverfahrens die Absicht zu Grunde, «interessierte Kreise» in den Gesetzgebungsverfahren zu breit konsultieren, damit das Endprodukt nicht bei einer allfälligen Abstimmung Schiffbruch erleidet. Dieses Verfahren ist grundsätzlich offen gehalten. Alle Bürger:innen können eine Vernehmlassungsantwort einreichen.
Es gibt jedoch auch mehrere Argumente, die dagegen sprechen, das Vernehmlassungsverfahren als deliberativen Prozess zu definieren:
Deliberation im Verständnis ohne die Vernehmlassung wird in der Schweiz in der breiten Öffentlichkeit fast nicht diskutiert. Während sich in der Wissenschaft mit dem Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA), der Universität Zürich und der Universität Genf Forscher:innen seit längerem mit dem Thema auseinandersetzen, fristet das Thema medial und auch politisch ein Nischendasein.
Medien berichten zwar immer wieder über einzelne deliberative Prozesse. Der grössere Diskurs in Bezug darauf, welchen Beitrag Deliberation im politischen System der Schweiz spielen könnte, fehlt dafür fast gänzlich. Google News-Suchen im Schweizer Kontext zu den Begriffen “Deliberation”, “deliberativ(e)” und “deliberative Demokratie” und ergeben insgesamt 6 relevante Treffer, von denen die meisten von SWI Swissinfo stammen.
Auch im politischen Umfeld ist der Begriff der Deliberation vor allem auf nationaler Ebene unbekannt. In einer Suchabfrage auf der Geschäftsdatenbank des Parlaments Curia Vista findet sich nur ein Eintrag. Eine Suche auf dem Portal der Schweizer Regierung admin.ch ergibt keinen Eintrag.
Auf kantonaler Ebene zeigen sich Unterschiede. Während in den meisten Kantone Deliberation ebenfalls keine Rolle spielt, hat im Kanton Zürich die Direktion der Justiz in drei Zürcher Gemeinden deliberative Bevölkerungspanels zum Thema Klimaschutz durchführen lassen.
Politiker:innen in der Schweiz sind zudem meist eher ablehnend gegenüber deliberativen Formaten. Eine Umfrage der Berner Fachhochschule mit den Kandidierenden der Stadtberner Wahlen 2020 zeigte auf, dass diese deliberative Formate wie partizipative Budgets, einem temporären und ständigen Bürgerrat oder einem «Panel Citoyen» sehr skeptisch beurteilen. Ein Grund besteht gemäss den Autor:innen der Umfrage darin, dass diese neuen Formate die bisherige Gestaltungsmacht von Politiker:innen und Parteien beschneiden könnten.
Zudem taucht vonseiten der Politik häufig der Vorwurf auf, dass deliberative Prozesse “Schattenparlamente” seien, die zu viel Geld kosten würden.
Das Potential für die vermehrte Anwendung von deliberativen Prozessen ist in der Schweiz gross. Sie sind geeignet, um unser politisches System auf Möglichkeiten der Weiterentwicklung zu hinterfragen.
Wie genau deliberative Prozesse in der Schweiz umgesetzt werden sollen und welche Rolle(n) sie an welchen Stellen des Politikzyklus spielen könnten, sind wichtige Fragen über die Zukunft des politischen Systems in der Schweiz.
Wichtige offene Fragen bleiben:
Im nächsten Debattenbeitrag dieser Reihe werden wir uns diesen Fragen vertieft widmen.